Bericht von Lena Mohm
Hab' viel zu erzählen …
Ein musikalischer Bericht einer hybriden Lernreise
Wintersemester 2020/21
Ich habe mir während unserer Lernreise kaum Notizen gemacht. Ich war wohl viel zu sehr damit beschäftigt, den inspirierenden Persönlichkeiten zuzuhören, denen wir in den letzten beiden Wochen digital oder (unter Einhaltung der entsprechenden Corona-Maßnahmen) auch persönlich begegnen durften. Stattdessen habe ich für diesen Bericht also unsere Lernreise-Playlist zu Rate gezogen, zu der jedes Mitglied unserer Reisegruppe zwei Songs beigesteuert hat. Diese Playlist hat uns durch unsere beiden Reisewochen begleitet und überraschend treffende Zeilen aus einigen ihrer Lieder sollen uns nun auch durch diesen Reisebericht führen.
Intro
Im letzten Winter lasse ich mich, ohne groß darüber nachzudenken, auf die Teilnehmer:innenliste für die nächste Lernreise setzen. Ein Urlaub in Italien würde im Frühjahr ohnehin nicht möglich sein, da könnte ich die Zeit auch mit etwas Sinnvollem füllen, denke ich mir. Wir befinden uns mitten im zweiten digitalen Semester. Wieder ein Semester ohne echtes Unileben – Isolation is not good for me.
Strophe 1: Die Vorbereitungszeit
Und inmitten des digitalen Alltagstrotts sind da auf einmal 9 mehr oder weniger neue Gesichter auf meinem Bildschirm. Ich bin zunächst skeptisch, wie das Prinzip Lernreise überhaupt funktionieren soll, wo wir einander doch nicht wirklich kennenlernen können und die Zukunft nicht mal eine Woche in die Zukunft planbar zu sein scheint. Doch schon nach den ersten Minuten unseres ersten Vorbereitungstreffens ist mir klar: Mit diesen Menschen geht das.
Strophe 2: Reisewoche 1
Montag 15.03. – Von grünen Wegweisern und roten Salons
Als ich am Morgen unseres ersten Lernreisetages am Mainzer Bahnhof ankomme, fällt mir sogleich eine grüne, mit einem Papierflieger verzierter Stofftasche ins Auge. Anders hätte ich
die anderen unter ihren Masken und fernab der digitalen Welt vielleicht gar nicht erkannt. Doch die positive Stimmung bei unserem ersten echten Zusammentreffen unterscheidet sich nicht im Geringsten von der unserer Vorbereitungstreffen (außer vielleicht, dass der eine oder die andere noch unbewusst nach dem "Mikrofon-Anschalten-Button" sucht, bevor er oder sie das Wort ergreift). So treten wir unsere Reise zur Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe an. An der Schule werden wir vom Schulleiter herzlich in Empfang genommen und ein Blick hinter die Fassaden des scheinbar gewöhnlichen Backsteinbaus offenbart uns gleich zu Beginn unserer Reise eine ganz und gar ungewöhnliche Schule. Es gibt perfekt ausgestattete Werkstätten, einen Wald und zwei Bienenstöcke, einen Achtsamkeits-Raum, den Maker-Space mitsamt Greenscreen und Kameras zur Erstellung von Lernvideos, einen roten Salon, wo alle zur Schulentwicklung zusammenkommen, das Ideenbüro, fächerübergreifenden Unterricht, Kooperationen mit dem Landesmedienzentrum und dem Mehrgenerationenhaus gleich um die Ecke. In our game there is no score – Noten, gibt es an der ERS keine; stattdessen wird mit individuellen Lernentwicklungsberichten gearbeitet. Wir sprechen auch mit einer Lehrkraft, die das Projektfach L.E.B.E.N. unterrichtet, im Zuge dessen die Schüler:innen sich z.B. eigenständig um die Unterstützung eines sozialen Projektes in der Umgebung bemühen. Dass der Schulleiter nach eigener Auskunft "wenig schläft" mag zum Teil an der Energie liegen, die er und die gesamte Schulgemeinschaft täglich in die Entwicklung ihrer Schule investieren.
Do 18.03. - Vom Kampf gegen Windmühlen
Nach weiteren ereignisreichen Lernreisetagen gefüllt mit Workshops und inspirierenden Gesprächen steht heute unser erster digitaler Besuch an einer Schule an. Wir sprechen mit der Schulleiterin des Montessori Zentrums Hofheim, mehreren Lehrerinnen und Schüler:innen, die vom Kinderhaus bis zur Oberstufe diese Schule besucht haben. Gleich fällt uns die positive Kommunikation zwischen Schüler:innen und Lehrkräften auf und im Laufe des Gesprächs nimmt meine bisher nur vage Vorstellung von der Montessori-Pädagogik immer klarere Formen an. Mit der Run Boy Run – Mentalität leistungsorientierter Regelschulen hat der Alltag an der Montessorischule wenig gemeinsam. Stattdessen sind jahrgangsübergreifendes Lernen im eigenen Tempo, Schülerorientierung, ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit und die Förderung von Individualität, als Grundzüge des reformpädagogischen Konzepts zu nennen. Im Nachhinein fragen wir uns, warum man gewisse reformpädagogische Elemente nicht "einfach" auch an Regelschulen etablieren kann. It’s just the way it is. You couldn’t change a thing - eine der anwesenden Lehrer:innen erzählt uns, wie sie bei eben diesem Versuch immer
wieder auf taube Ohren traf und der Regelschule schließlich zu Gunsten des Montessori-Konzepts endgültig den Rücken kehrte.
Fr 19.03. – Von Herzenspädagog:innen und Baustellen
Und schon steht der nächste digitale Schulbesuch an. Gemeinsam mit einer Lernreisegruppe aus Köln sprechen wir mit dem didaktischen Leiter der Gesamtschule Barmen in Wuppertal. Uns wird von einem gläsernen Schulgebäude voller Pflanzen mitten im "sozialen Brennpunkt" der Stadt berichtet. Vandalismus gebe es an dieser Schule keinen, wird uns erzählt, denn alle nehmen das besondere Gebäude als ihren Lebensraum wahr. Ein Einblick in eine bis zum Rand mit interaktiven Lernangeboten gefüllte Online-Plattform zeigt: Von einem passiven abarbeiten von Aufgaben fehlt an dieser Schule, die dem Leitspruch "SCHUL(E)-MIT-WIR-KUNG" folgt, auch in Pandemiezeiten jede Spur. Gemeinschaft, Partizipation, Verantwortung und ganz besonders die Medienbildung prägen den Schulalltag. I used to teach you now you teach me – so unterstützen Schüler:innen als Medienscouts Lehrkräfte, Eltern und Mitschüler*innen im Umgang mit digitalen Medien und Themen wie Medienethik sind fester Bestandteil des Stundenplans. Der didaktische Leiter spricht von Herzenspädagog:innen, der Bedeutsamkeit von Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritischem Denken für die Gesellschaft von morgen, gemeinsam etablierten Schulregeln und stets offenen Klassenzimmertüren. Uns wird jedoch auch berichtet, dass die Schule keineswegs bereits die perfekte Antwort auf jede Frage gefunden hat. So wird das Thema Inklusion als andauernde Baustelle und Herausforderung, nicht jedoch als Problem hervorgehoben.
Sa 20.03. – Deep in the forest we get lost
Es bricht der Tag an, der für mich einer der wertvollsten unserer Lernreise werden wird und der sich kaum in diesen wenigen Zeilen zusammenfassen lässt. Für einen Großteil der Lernreisegruppe heißt es heute Ich hol mein Bike aus der Garage, denn es zieht uns nur eben rüber nach Wiesbaden zu den Erlebnisfeldern rund um Schloss Freudenberg. Auf unserer Führung durch den Schlosspark, in dem Menschen dazu eingeladen werden, der Natur und den eigenen Sinnen mitten in der Stadt wieder näher zu kommen, versuchen wir, einen an einem Seil aufgehängten 180 kg schweren Stein nur mithilfe eines Bindfadens und eines gekonnt geknüpften Knotens aus seinem Radius zu bewegen. Feststellung: Der Faden reißt immer dann, wenn wir massiv in die natürliche Bewegungsrichtung des Steins eingreifen. "Ist das bei euren Schüler:innen vielleicht ähnlich?", werden wir gefragt.
Strophe 3: Reisewoche 2
Mi 24.03. – "Diese Schule braucht Verrückte"
Nachdem wir in dieser Woche schon an einem Workshop zum Thema "Bildung für nachhaltige Entwicklung" und am Bildungsgipfel der Pioneers of Education teilgenommen haben, hat uns heute die IGS Süd in Frankfurt eingeladen, sie vor Ort zu besuchen. Gleich fällt uns ein "Fridays for Future" – Graffiti direkt gegenüber der "Good News-Pinnwand" im Treppenhaus auf. We love the earth – jede Jahrgangsstufe trägt an dieser Schule den Namen eines Kontinents und so führen drei Schüler*innen uns von Australien, über Afrika und Asien durch ihre Schule. Eigenständiges Lernen in Fachbüros mithilfe von schuleigenen Lernbausteinen in Mathe, Deutsch und Englisch, die Integration verschiedener reformpädagogischer Ansätze, intensive Projektarbeit, Lernbegleitung statt Frontalunterricht, die Projektfächer Glück und Leben und die Orientierung an den Global Goals für nachhaltige Entwicklung – dieses Schulkonzept wurden innerhalb nur eines Jahres auf die Beine gestellt. Die Vertreterinnen der Schulleitung und des Schulplanungsteams vergleichen die IGS entsprechend mit einem "pulsierenden Organ", dass täglich weiterentwickelt werden muss. Thinkin' of ways to make it better - für diese nie endende Mammutaufgabe brauche die Schule "Verrückte", erzählen uns die beiden Herzenspädagoginnen.
Fr 26.03. – Die Elternabende sind hart
… heißt es in einem weiteren Song auf unserer Playlist. Nichts könnte jedoch weniger auf die Elternarbeit an der Freien Comenius Schule in Darmstadt zutreffen, die wir am letzten Tag unserer Lernreise digital besuchen dürfen. Hier werden die Eltern der Schüler:innen vielmehr als Teil der Schulgemeinschaft betrachtet und sie gestalten den Schulalltag aktiv mit. Auch flache Hierarchien, Lernen mit Herz und Hand, gelebte Inklusion, eine Orientierung am Jena-Plan und eine lebhafte Feierkultur im Jahresverlauf prägen den Schulalltag dieser besonderen Schule. Auch ein ehemaliger Schüler, der die Comenius Schule in der 8. Klasse verlassen hat, weil ihm dort ein musischer Schwerpunkt fehlte, nimmt an unserem Gespräch teil. Sein Beispiel
zeigt uns, dass auch eine solche Schule nicht den Bedürfnissen aller Schüler:innen gerecht werden kann.
Outro
Und dann ist unsere Lernreise auch schon vorbei … naja, eigentlich nicht wirklich, denn viele Schulen haben uns angeboten, unseren persönlichen Besuch nachzuholen, sobald dies wieder möglich ist. Zum Abschluss fassen wir unsere Sicht auf die letzten beiden Wochen in Bildern zusammen. Es werden Sonnen, bunte Farben, große Fragezeichen und vor allem Wege ohne absehbares Ende in die Kameras gehalten. Unser, im Dezember noch so leeres, digitales Whiteboard ist nun gefüllt mit Erinnerungen an inspirierende Gespräche und Begegnungen, durch die ich mich mit unserer Playlist auf den Ohren klicke, während ich diesen Bericht schreibe; [that wants to] send you on your journey.